Was die Buchhandlung von Frau Geist so außergewöhnlich macht? Eine Buchhandlung allein für Lyrik ist nicht nur ein Verkaufsraum, sondern vor allem Raum für Begegnungen, der Kommunikation und der Neugier, sagt sie:
„Außergewöhnlich ist natürlich mein Schwerpunkt, den ich insbesondere auf die zeitgenössische, neue Lyrik legen wollte. Denn gerade die zeitgenössische Lyrik gehört zu den derzeit aufregendsten Kunstformen unserer Zeit und dennoch scheint dies abseits einer größeren Öffentlichkeit vorzugehen. Lyrik wird eher immer noch als „arme oder introvertierte Verwandte“ der Belletristik gehandelt. Kaum eine Sortimentsbuchhandlung hat noch ein einigermaßen gut bestücktes Lyrikregal. Lyrik muss aber nicht nur zu Gehör gebracht werden; sie braucht mehr denn je auch eigene Orte der analogen Begegnung, die ein Eintauchen in Sprachbilder, Rhythmus, Melodie und Topoi des Dichters ermöglichen.“
Seit ihrer Studienzeit in Tübingen hat sie den Wunsch eine Lyrikbuchhandlung zu eröffnen. Über weitere berufliche Stationen hat sie sich diesen Wunsch dann nun im Frühjahr 2021 erfüllt:
„Ich war nach vielen Jahren, die ich auf der anderen Seite der Buchproduktion als Verlagsredakteurin und Herausgeberin eines Kulturmagazins verbracht habe, verrückt genug, nochmals ganz von vorne zu beginnen und in Tübingen diese kleine, poetische Buchhandlung zu eröffnen, als klassische Quereinsteigerin – was ich bisher noch keinen Tag bereut habe. Natürlich ist es ein Wagnis, einen etablierten Job aufzugeben, um sich in der immer wieder totgesagten Buchbranche selbstständig zu machen – ohne tiefes Vertrauen, mit der Lyrik einen Platz in der Welt der Bücher zu finden, geht es wohl nicht. Doch nur wenige Orte erfüllen die Seele mit so viel Hoffnung wie ein Buchladen.“
Die Begegnungen mit Ihren Kund*innen und der Lyrik sind dabei ganz besonders:
„Poesie braucht konkrete Orte, um uns dafür zu öffnen. Und Momente wie diese: Ein junger Mann Mitte zwanzig, der immer wieder auf seinem täglichen Gang in mein Schaufenster schaute, kaufte sich Celans Gedichte, mit denen er bisher nur in der Schule in Berührung gekommen war und setzte sich vor seinem Theaterdienst auf die Neckarmauern am Hölderlinturm. Er kam wieder, um zu bezahlen und erzählte mir, wie sehr Celan ihn berührt, ja verändert habe. Eine neue Welt, auch eine Orientierung, vielleicht auch eine Identifikationsmöglichkeit hatte sich ihm aufgetan.
„Kundenbegegnungen sind mehr als nur ein Einkauf!“
Ich schenkte ihm antiquarisch Bachmanns Gedichte dazu mit den Worten, „wer Celan sagt, muss auch Bachmann sagen…“ und er will wieder kommen und mir berichten…aber jede Kundenbegegnung ist anders, aber immer eine Begegnung, immer sehr viel mehr als ein ‚Einkauf‘.“
Als Buchhändlerin für Lyrik, sieht sie den täglichen Umgang mit Sprache als etwas ganz Besonders:
„Mein täglicher Umgang mit Sprache und Ihrer Verdichtung gefällt mir an dem Beruf als Buchhändlerin besonders. Poesie vermag es, über Sprache die Welt zu ergründen. Sie kann trösten, Kraftquell sein und aktivieren, sie ist widerständig und überrascht mit neuen Sichten auf die Welt und die Dinge. Es geht ihr um Veränderung, Rückgewinnung, sozusagen um das „Auftauen“ von Wörtern. Jede Spracharbeit ist politisch, weil sie eingefahrene Denkmuster zerstört, und Klischees und feste Vorstellungen sind für die Gesellschaft schädlich. Kunst und insbesondere die Dichtkunst ist das Gegenmittel.
Gerade in der zeitgenössischen Lyrik öffnet sich die Sprache auf eine einzigartige Weise und in dieser ästhetischen Verdichtung und Reduktion kann sie auch einer jüngeren Generation Bilder und Antworten geben in einer Welt, die sich in Überreizung und zugleich Redundanz zunehmend zu verlieren droht. Es sind Stimmen aus der Gegenwart in die Gegenwart, die hier erhört werden können. Gibt es eine schönere Aufgabe? Wohl kaum!“
Wer Ulrike Geist in Ihrer Buchhandlung einmal besuchen möchte, hat hier die Möglichkeit:
Lyrikhandlung am Hölderlinturm
Ulrike Geist
Bursagasse 15
72070 Tübingen
07071/5667171
https://lyrikhandlung.de/
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Kommentar verfassen2 Kommentare
Liebe Frau Geist,
Sie haben meine Lust auf Lyrik wieder angefacht. Welche zeitgenössische Autorin würden Sie mir ans Herz legen wollen?
Sehr gespannt Sibylle Heyn
Liebe Frau Heyn,
das ist natürlich ganz in meinem Sinne, dass Sie wieder Lust auf Lyrik bekommen haben…
Da ich Ihre Vorlieben natürlich gar nicht kennen kann, was aber eigentlich viel verkauft wird hier im Laden ist Nadja Küchenmeister „Unter dem Wachholder“ oder Daniela Danz „Pontus“. Ansonsten gehen Sie einmal auf meine letzten Newsletter, da sind Auszüge aus Büchern, die ic h generell empfehle, z. B. auch Doris Runge…
Mal sehen, freue ich über Rückmeldung, herzlich aus der Bursagasse, Ulrike Geist