Liebe Frau Meininghaus, wie kam es dazu, dass Sie als Geschäftsführerin der Nordbuch-Gruppe sich dem Thema „gering literarisierte Menschen“ angenommen haben?
Auf dem letzten Libri.Campus live hat Lukas Heinemann von der Stiftung Lesen einen Vortrag zu gering literarisierten Menschen gehalten und uns in ihre Lebenswelten mitgenommen. Das hat mich wirklich wachgerüttelt.
Wach gerüttelt – in welcher Hinsicht?
Zunächst war ich von der hohen Zahl überrascht und dann in der Konsequenz erschrocken: 6,2 Mio. Menschen in Deutschland können nicht richtig lesen und schreiben. Da liegt es nahe, dass Teilhabe auf vielen gesellschaftlichen Ebenen kaum möglich scheint, mindestens aber sehr erschwert ist.
Doch wenn Sie sich mit der Lebenswelt dieser Menschen beschäftigen, werden Sie lernen, dass diese mitten in der Gesellschaft verwurzelt sind. Die meisten von ihnen haben einen Schulabschluss und gehen einer festen Arbeit nach. Das sind unsere Nachbarinnen oder Sportkollegen. Und als Buchhändlerin sehe ich natürlich auch die Entwicklung, dass wir immer mehr Leser*innen und damit auch Buchkäufer*innen verlieren. Da können wir nicht einfach zuschauen!
Im Herbst 2022 waren Sie dann mit Dr. Maas, Geschäftsführer der Stiftung Lesen, zu Gast beim Campus.Dialog. Hier ging es um die Frage, wie der Buchhandel gering literarisierte Erwachsene erreichen kann. Wie ist da Ihre Einschätzung?
Die Herausforderung ist groß, das möchte ich nicht klein reden. Daher macht es Sinn, sich die Zielgruppe noch genauer anzuschauen. Die Lesekompetenz wird über sogenannten Alpha-Level definiert, von Alpha 1, das bedeutet Kompetenz auf Buchstabenebene, bis Alpha 3 – Kompetenz auf Satzebene. Wenn wir von den 6,2 Mio. gering literarisierten Menschen sprechen, bewegen wir uns in diesen drei Kompetenzstufen. Für den Buchhandel liegt – nach meiner Einschätzung – das viel größere Potential aber auf dem Alpha-Level 4. Diese Personengruppe kann eigentlich lesen, sie tut es aber kaum, da es Mühe bereitet und nicht mit Spaß verbunden ist. Wenn wir für diese Gruppe spannende Leseangebote schaffen, erschließen wir uns nicht nur eine neue Zielgruppe, wir verhindern auch, dass die Lesekompetenz weiter abnimmt. Denn Menschen, die lesen können, auch wenn das mit Schwierigkeiten verbunden ist, sollten das auch tun. Lesen kann nämlich tatsächlich auch wieder verlernt werden.
Was wissen wir über diese Zielgruppe?
Wir haben uns intensiv mit der Stiftung Lesen ausgetauscht, die sich in ihrer Forschung auf die Alpha-Stufen 1 bis 3 konzentriert. Ihre Erkenntnisse über Interessen und Lebensumstände der Zielgruppe sind sehr gut auf die Zielgruppe Alpha 4 zu übertragen. Ende Januar haben wir uns mit engagierten Buchhändler*innen aus der Nordbuch-Gruppe bei Libri in Bad Hersfeld zu einem Workshop getroffen. Da ging es darum, ein noch besseres Verständnis für ihre Lebenswelt zu entwickeln. An dieser Stelle herzlichen Dank an Isabelle Wilden von der Stiftung Lesen, die den Workshop mit ihren Einschätzungen sehr bereichert hat.
Und konnten Sie schon erste Ansätze entwickeln, wie Sie diese Zielgruppe erreichen wollen?
Ja, tatsächlich. Im ersten Schritt haben wir Personas definiert und haben uns dann mit Hilfe einer Empathy Map intensiv mit deren Bedürfnissen beschäftigt. Davon ließen sich Themen und Interessen ableiten und auch mögliche Szenarien, wie wir Buchhändler*innen dieser Zielgruppe begegnen können. Als konkrete Maßnahme sind hier zum Beispiel erste Bücherlisten entstanden.
Wie sehen die nächsten Schritte aus?
Auf der Nordbuch-Tagung am 23. und 24. Februar werden wir Ideen rund um unsere erste Persona vorstellen und hoffentlich weitere Mitstreiter*innen für unser Anliegen gewinnen. Ich persönlich denke, dass wir uns über Ausprobieren und Austausch untereinander dieser Zielgruppe nähern müssen. Unsere Erfahrungen teilen wir gern mit allen, die an diesem Thema Interesse haben. Das ist auch durchaus als ein Aufruf zu verstehen. Melden Sie sich bei mir oder bei Libri!
Man spürt, das Thema liegt Ihnen wirklich am Herzen. Wie reagieren Kolleg*innen im Buchhandel auf Ihre Initiative?
Allen ist klar: Diese Zielgruppe ist nicht einfach zu erreichen. Wir brauchen einen langen Atem und bei einigen Ansätzen werden wir auch unsere Komfortzone verlassen müssen.
Was sagen Sie denen, die noch zögern?
Der Aufwand wird sich lohnen, denn mit jeder Idee in diese Richtung wird der Buchhandel nahbarer und auch vielfältiger. Und das wird auch auf andere Zielgruppen ausstrahlen und den Buchhandel für viele sympathischer und attraktiver machen!
Herzlichen Dank für das Interview und Ihr Engagement, Frau Meininghaus!