Lieber Herr Kaps, Sie sind Kulturwissenschaftler und „Buchmensch“ – unter
anderem Verleger des altraverse Verlages. Kam Ihr Interesse an Manga als Leser oder über die wissenschaftliche Auseinandersetzung?
Letztlich war es ein Mix aus beidem. Als begeisterter Leser von Büchern aller Art war ich schon als Kind vom Erzählen in Bildern fasziniert. Die emotionale Tiefe, die der Mix aus Text und Bild erzeugen kann, hat mich von klein an sehr stark angesprochen. Und ich fand es immer faszinierend, dass man mit einem Stift und einem Blatt Papier komplette Welten erschaffen kann. Die Neugier des Kulturwissenschaftlers wurde dann dadurch geweckt, dass ich mich vor fast 30 Jahren plötzlich in einer Phase der kompletten Veränderung dieser Form wiederfand. Manga haben fast alles infrage gestellt, was wir zuvor in Europa über Comics zu glauben wussten. Und sie hatten vom ersten Tag an die jungen Leser auf ihrer Seite. Ich wollte verstehen, warum dieser Bruch mit Lesetraditionen in dieser Radikalität möglich war. Und ich fand Freude daran, ein aktiver Teil dieses disruptiven Prozesses sein zu dürfen.
Wann genau haben Sie Manga entdeckt? Gab es da so eine Art Erweckungserlebnis?
Ich hatte während meines Studiums Abonnements nahezu aller relevanten Fachzeitschriften über Comics aus dem In- und Ausland laufen und natürlich auch sehr viel wissenschaftliche Literatur zum Thema gelesen. Meine erste Begegnung mit Manga war daher eine Sekundärerfahrung. Bücher wie Manga! Manga! The World of Japanese Comics von Frederik L. Schodt (1983) und was sie in der Berichterstattung in Magazinen wie dem legendären The Comics Journal nach sich zogen, waren meine ersten Berührungen mit Manga. Ob meiner fremdsprachlichen Begrenztheit war ein Primärkonsum mir erst möglich, als die ersten englischen und französischen Übersetzungen verfügbar wurden.
Was kann nun Manga, was westliche Comics vielleicht nicht so gut können? Oder anders: Was erklärt die Faszination gerade auch bei jungen Menschen für die Welt von Dragon Ball, Naruto & Co?
Es geht für mich bei der Frage nicht um »gut« oder »schlecht«, sondern vor allem um »anders«. Ich liebe auch den westlichen Comic und Graphic Novels unverändert. Aber die Rahmenbedingungen, unter denen Manga in Japan entstehen, haben einfach neue Formen des Erzählens in Bildern hervorgebracht, die im klassischen Comic nicht möglich waren. Das hat mit dem Raum für Bilder zu tun, die dem Erzählen im Manga zur Verfügung stehen, mit dem Umfang und Tempo der Produktion, aber auch mit einer sehr großen Nähe zum Publikum, dem in Japan über Jahrzehnte hinweg nicht nur die Möglichkeit gegeben wurde, Feedback zu geben, sondern das auch ernst genommen wurde. Das hat komplexeres Erzählen, eine ganz andere Art von entwicklungsfähigen Figuren und immer auch ein sehr schnelles Reagieren auf Trends mit sich gebracht. Und genau das begeistert natürlich vor allem ein junges Publikum.
Witzigerweise ist ja auch der Zeichentrickfilm zu Heidi aus den 70er-Jahren eine Anime-Serie von Zuiyo Enterprise. Sind Manga also viel vielfältiger, als man zunächst annimmt? Und könnte man sogar die etwas steile These aufstellen: Da ist für jede und jeden etwas dabei?
In keinem anderen Land hat sich eine vergleichbare Vielfalt an Themen und Stilen bei Bildergeschichten entwickelt wie in Japan. Nur wurde diese Vielfalt in den frühen Jahren der Ankunft in den europäischen und amerikanischen Märkten zunächst nicht gesehen, weil sich das Gros der westlichen Verlage zunächst auf die ganz großen Bestseller konzentriert hat, was ökonomisch ja auch sinnvoll war. Nach und nach sehen wir aber im Angebot übersetzter Manga nicht mehr nur die Spitze des Berges, sondern den Berg selbst. Wie unglaublich vielfältig der japanische Markt war, hatte der schon erwähnte Frederik L. Schodt früh aufgezeigt, nur kannte eben kaum jemand sein fantastisches Buch.
Wenn man nun kaum Berührungspunkte zu Manga hat, sich aber für den gegenwärtigen Hype interessiert und diesen verstehen will, wo setzt man an?
Das ist tatsächlich gar nicht so leicht zu beantworten, weil es immer von individuellen Lesebiografien abhängen wird, wo man für sich einen Zugang findet. Ich empfehle allen, die sich für Jugendliteratur interessieren, eigentlich gerne die ersten Bände von One Piece, weil sie verstehen helfen, dass es im Manga sehr vertraute Erzählmuster gibt, die nur anders umgesetzt werden. Der Start der Schatzsuche von Monkey D. Ruffy ist im Grunde eine sehr temporeiche Variation des Klassikers Die Schatzinsel. Die ersten sieben Bände von Dragon Ball können einem die kindliche Freude an einer märchenhaften Geschichte und den liebenswerten Aufbau eines faszinierenden Arsenals von Figuren nahebringen. Wenn man sich eher von der erwachseneren Seite nähern möchte, würde ich zu Werken von Naoki Urasawa oder dem gerade bei altraverse erschienenen Ketzer – Tödliches Wissen über die Bewegung der Erde raten. Jenseits des Mainstreams ist schließlich Kitaro eine echte Offenbarung, das der stets und ständig nach Innovation strebende Dirk Rehm mit seinem Verlag Reprodukt nach Deutschland geholt hat.
Und ganz persönlich: Was sind momentan Ihre zwei Lieblingstitel und was ist das Besondere an diesen?
Ich habe bis heute Freude an der Vielfalt von Manga. Aktuell begeistert mich die unheimliche Aura, die Mokumokuren in Der Sommer, in dem Hikaru starb entstehen lässt, weil mich einzelne Sequenzen wirklich überrascht haben. Das Unheimliche breitet sich in einem ganz alltäglichen Setting wie ein Spinnenschwarm aus und lässt einen immer wieder ein wenig ratlos zurück. Ich liebe es, wenn Bücher so etwas mit mir machen. Wenn ich Lust auf Entspannung habe, greife ich immer wieder voller Freude zu der großartigen Superhelden-Parodie Rooster Fighter, in der ein Hahn sich dem Kampf gegen Monster stellt, die die Erde heimsuchen. Auch dank der fantastischen Übersetzung von Anemone Bauer ist das für mich Unterhaltung pur!
Vielen Dank für diesen Einblick!